Hard To Swallow

with Young Valley Soil 
at M.1 Arthur Boskamp Stiftung Hohenlockstedt
April 2024





Photo: Marie-Theres Böhmker

Nach dem Essen sollst du ruh´n oder tausend Schritte tun


Über Young Valley Soil: „Hard to Swollow“

14. April 2024, M.1 Arthur Boskamp Stiftung, Hohenlockstedt


„So ist das Leben“, sagte letztens eine Freundin zu mir, als wir darüber sprachen, uns für den gleichen Job zu bewerben. Da ist direkt das Dilemma, die ambivalenten Gefühle. Man möchte es für die Andere, weiß um aktuelle schwierige Umstände, die grandiose Qualifikation und wünscht sich bedingungslos mit, was die geliebte Person sich wünscht. Und auf der anderen Seite das Potential sich aus eigenen schwierigen Umständen herauswinden zu können.

“Cause it's a bittersweet symphony, that's life”, singt Richard Ashcroft, der Sänger von The Verve 1997. Zwei Jahre später läutet das Lied die Abschlussszene von Cruel Intentions (Eiskalte Engel) ein und den finalen Plot Twist, in dem die zentrale Intrigantin der Handlung öffentliche Demütigung erfährt. “What we should learn from this experience is to be true to ourselves and to resist the temptation of peer pressure”, erklärt Kathryn Merteuil, gespielt von Sarah Michelle Gellar, bei der Trauerfeier ihres Stiefbruders, an dessen tödlichen Unfalls sie durch ihre Arglist nicht ganz unbeteiligt war. Und trotzdem versucht sie noch auf den letzten Metern die Bühne für eine Authentizitätsansprache zu erobern, daraus eine Art unschuldige Performance zu evozieren. Kathryn könnte auch eine perfekte Kandidatin für eine künstlerische Karriere verkörpern. Sie ist zielstrebig, charismatisch, begehrenswert, reich und vor allem eine Einzelkämpferin. Die Szene könnte sinnbildlich stehen für Tücke, Kalkül und den Ellenbogen-Charakter des neoliberalen Kunstmarktes.

„Wenn etwas Bitteres durch deinen Körper wandert, kann der Geschmack Reflexreaktionen wie Speichelfluss und Würgen auslösen. Trotz ihres eher düsteren Klangs haben diese Mechanismen einen durchaus praktischen Zweck: Der Speichelfluss hilft, die bittere Substanz zu verdünnen und das Verdauungssystem auf die kommende Nahrung vorzubereiten“, hört man die Stimme Elina Saalfelds durch die Kopfhörer sprechen. Es ist die Zugfahrt, beziehungsweise Busfahrt nach Hohenlockstedt, zu der es bereits ein erstes Hörstück gibt, um sich auf den Tag und die Thematik einzustellen. Wie eine Art Aperitif bereitet der Text auf das kommende Mahl vor, rückt die Geschmackszellen zurecht und steigert den Appetit. Die Wahrnehmung von Bitterkeit kann also auch ein Schutzmechanismus sein, der dazugehörige Reflex als Vorstufe zur Verdauung funktionieren.

Angekommen werden die Besucher*innen im Garten in Empfang genommen. Zuerst sollen wir draußen noch einen Moment warten; ein textiler Wurm hängt wie eine Vorahnung aus dem Fenster im ersten Stock des ehemaligen Kasernengebäudes. Als wolle das eigenartige Objekt schon einmal die Fühler nach den Reisenden austrecken, ohne dabei zu aufdringlich zu sein. Alle sind ein wenig angespannt und mit S. und T. unterhalte ich mich über das Leben nach dem Kunststudium, wir empfehlen einander Ausschreibungen oder denken über das künstlerische Arbeiten im Zeichen der prekären Selbstständigkeit nach sowie dessen Auswirkungen auf eben diese Prozesse. Wenn man sich kein Atelier leisten kann, wie soll man dann arbeiten? Was macht das mit der künstlerischen Arbeit?

Alle Besucher*innen werden hineingebeten und willkommen geheißen. Nun gibt es einen weiteren Aperitif, in Form eines Getränks: bitter. Elina Saalfeld liest aus dem Ratgeber ”Die perfekte Gastgeberin, Schöne Feste - zufriedene Gäste” von Heinz Keschow aus dem Jahr 1977.

„Es scheint, dass Neid überall auftritt, wo soziale Nähe, gegenseitige Bekanntschaft und die Ähnlichkeit der Lebensverhältnisse zum Vergleich einladen. Bei großer sozialer Distanz entsteht Neid seltener.“ Mit einem genähten Schneckenhaus auf dem Rücken verliest Cristina Rüesch einen Auszug aus der Geschichte von Kain und Abel. Obwohl beide dieselbe Arbeit verrichten, werden sie unterschiedlich entlohnt und behandelt. So performt die Künstlerin den Neid und dreht die harte Schale einer Schnecke und ihren weichen symbolisch um. Das Kostüm auf dem Rücken ist weich, wie ein Kissen und die innere Härte bekommt man durch den künstlerischen Beruf nur zu gut beigebracht. Um in der christlichen Allegorie zu bleiben, symbolisiert die Weinbergschnecke die Hoffnung auf die eigene Auferstehung und die Widergeburt Jesu, sie könnte in diesem Fall als Hoffnungsträger für Wiedergutmachung stehen, um den Neid zu überwinden.

„Als ich ein Kind war, hat meine Oma mich herrschsüchtig genannt, passioned for power.“, liest Elisa Nessler, ebenfalls in einem selbst gestalteten Kostüm, dass an die Hexe in Disney´s Schneewittchen erinnert. Sie verkörpert passenderweise Groll und mit der Anlehnung an die Darstellung der bösen Hexe möglicherweise einen Verweis auf misogyne Erzählungen von Weiblichkeit und Rachsucht. Eine Intrigantin, quasi der Neid als verkörpertes Wesen, die machthungrige alte Frau hinter dicken Mauern. Der Groll verursacht langfristig eine dicke Haut, ein dickes Fell. Aber auch Knoten in den Eingeweiden, die sich vielleicht durch die Tätigkeit des Strickens aufknoten lassen, überlegt Nessler, verkleidet als der Groll.

„Ein Problem schlägt auf den Magen, aber lasst uns den Neid und Groll nicht alleine schwer im Magen liegen lassen und die gemeinsame Tafel eröffnen“, schließt Francisca Markus die szenischen Lesungen der Einzelmitglieder*innen aus dem Kollektiv ab. Der Wurm, der eingangs aus dem Fenster hing, ist nun um die Künstlerin geschlungen und an eine Säule im Raum geknotet. Beim Verlesen bewegt sich Markus um sie herum, zirkuliert den textilen Darm. Wie schon im Titel, den Texten und der kulinarischen Begleitung angelegt, geht es um die Verdaulichkeit dieser unbehaglichen Gefühle. Wenn man alles in sich hineinfrisst, wie verdaut man alles möglichst ohne Bauchschmerzen?

Die gelesenen Texte liegen gemeinsam mit weiterführender Lektüre auf einer gedeckten Tafel, nahezu gleichwertig wie die das tatsächliche Buffet. Eine Art Bankett voller Zugänge und Möglichkeiten miteinander ins Gespräch zu kommen, miteinander zu essen und zu verdauen. Es geht um die Performance, um Bewerbungen und Absagen, um Netzwerken, Freund*innenschaft und Ökonomie.

Ich denke an meine letzten Gefühle von Neid. Und direkt ist er da, wie auf Knopfdruck. Ich schäme mich. Lieber herunterschlucken. Der besagte Kloß im Bauch ist wie angekündigt schwer verdaulich, darum wäre ein Spaziergang nach so einer Mahlzeit wohl das Beste. Nach dem Essen sollst du ruh´n oder tausend Schritte tun…


But at least I got my friends
Share a raincoat in the wind
They got my back until the end
(Aura Dione)


Anne Meerpohl